Blog zum Film-Projekt:

 

Stolpersteinverlegung in Chemnitz

 

Gelände der Klinik für Psychiatrie, Verhaltensmedizin und Psychosomatik

09131 Chemnitz, Dresdner Straße 178

Rede zur Stolpersteinverlegung des Kölner Künstlers Gunter Demnig,

gehalten von Joerg Waehner, dem Urenkel von Franz Molch, der hierher zwangseingewiesen wurde, um anschließend im Rahmen der „Aktion T4“ am 12. August 1941 in Pirna-Sonnenstein ermordet zu werden.

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Es war im Jahr 1982, als ich das erste Mal über die Geschichte meines Urgroßvaters, Franz Molch, gestolpert bin. Ich war zur Nationalen Volksarmee eingezogen worden, als Soldat einer Pioniereinheit im sächsischen Pirna. In der Kaserne hörte ich von älteren Kameraden vom Sonnenstein, als Ort, wo es prima Kneipen geben sollte.

Sonnenstein? Pirna-Sonnenstein? Da war doch was... Ich erinnerte mich an die Erzählungen meines Großvaters: Sein Vater, mein Urgroßvater, war dort in der Nazizeit unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen, verstorben in der „Heil- und Pflegeanstalt ‚Sonnenstein’“, angeblich an den Folgen eines „Herzschlags“.

An diesem Ort, der auf einer Anhöhe über der Elbe lag, entdeckte ich während eines Kasernen-Ausgangs lediglich eine Gedenkplatte für Antifaschisten, die ich aber nicht mit Franz Molch in Zusammenhang bringen konnte.

Auf Urlaub zu Hause in Karl-Marx-Stadt, begab ich mich auf die Suche – und fand zwei Dokumente von 1941. Das Einlieferungsschreiben der Heilanstalt Sonnenstein und ein sogenannter Trostbrief mit Sterbeurkunde. Dazu ein Zeitungsartikel von 1947: Die „Volksstimme“ berichtete dort über „Massenmorde auf dem Sonnenstein“. Ein weiterer Hinweis tauchte in einer Serie der „Neuen Berliner Illustrierten“ von 1976 auf, hier las ich erstmals den Begriff Nazi-Euthanasie.

Aber erst mit der Wende 1989, durch den Aufbau der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, und vor allem durch die aufgefundene Krankenakte meines Urgroßvaters, die zu DDR-Zeiten im Geheimarchiv „Drittes Reich“ der Staatssicherheit verwahrt wurde, begann sich aus den vielen Informationen und Daten, aus Schriftstücken und Aktennotizen der unbekannte Mensch Franz Molch in eine mir nun vertraute Person zu verwandeln.

Es war ein jahrzehntelanger mühsamer Prozess, den Lebens- und Leidensweg meines Urgroßvaters über seine letzten drei Stationen Chemnitz-Zschadraß-Sonnenstein nachverfolgen zu können. Und auch zu verstehen, dass die NS-Euthanasie, die sogenannte „Aktion T4“, der „Probelauf“ für den Holocaust war.

Aber der Aufwand hat sich gelohnt: Meine Familie bekam auf diese Weise einen Angehörigen zurück. Und Franz Molch seine geraubte Identität.

Aber wer war eigentlich dieser Franz Molch?

Auf seine Herkunft und sein Leben möchte ich im Einzelnen nicht eingehen, Teile davon können Sie in der Biografie, die Ihnen vorliegt, nachlesen. Ich will mich auf den Moment der Verhaftung von Franz Molch und die Einlieferung hier ins Klinikum Dresdner Straße bis zu seinem Tod in Pirna-Sonnenstein beschränken.

Ich lese einen Auszug aus den Akten des Wohlfahrtsamtes Chemnitz vor:


29. September 1939. Staats-Assistent Nicolaus schreibt in seinem Bericht: „Molch hat seinen Einspruch nicht zurückgezogen. Einsicht ist ihm nicht beizubringen. Daß heißt, erEr hat Beschwerde erhoben gegen einen mit dem Hakenkreuz, weil er ihm 3 Wochen hintereinander 50 Pfg von der Rente (8,50 M) abgezogen hat.“


Ohne Begründung und ohne Nachweis war Franz Molch, damals bereits 68 Jahre alt, die Rente gekürzt worden. Nun fürchtete er um seine Existenz. „Hier müßte mal eine Granate einschlagen!“, soll er gerufen haben.


Staats-Assistent Nicolaus schreibt weiter: „Das schlimmste bei dem M. ist sein ungebührliches Verhalten, das geeignet ist, in den Räumen des Wohlfahrtsamtes Beunruhigung hervorzurufen. Man kann nicht einfach darüber hinweggehen, wenn jemand in den Amtsräumen brüllt. Molch hat auch, nachdem er aus dem Zimmer gewiesen wurde, noch auf dem Gang herumgeschimpft. Es mag sein, daß Molch nicht voll verantwortlich gemacht werden kann für seine Reden, aber das ändert nichts an der Wirkung. Auch außerhalb des Amtes wird eine solche Person nicht zurückhaltender sein, so daß erwogen werden möchte, ob die Allgemeinheit nicht vor deren Anwürfen geschützt werden kann.“


Am 23. November 1939 kam es erneut zu einem Vorfall im städtischen Wohlfahrtsamt, es ging erneut um die Rentenkürzung, die mein Urgroßvater nicht hinnehmen wollte. Nun schlug das NS-Regime zu. Mein Urgroßvater wurde Zitat: „wegen ungebührlichen, frechen und drohenden Verhaltens in einem städtischen Amt polizeilich der Nervenklinik Chemnitz überwiesen.“ - Also hierher.


Assistenz-Arzt Dr. Weißgerber, der damals hier an diesem Ort gearbeitet hat, notiert in seinem Bericht: „Bei der Aufnahme war M. völlig verwahrlost“, aber „psychisch, örtlich, zeitlich, persönlich orientiert. Besonnen, klar. Antwortet sofort.“ In den Fragebogen schreibt er: „Franz Molch: Geschieden, von Beruf Posamentierer, ‚ev. luth.’ Glaubensbekenntnis. Fälle von Geistes- oder Nervenkrankheiten in der Familie ‚nicht bekannt’. In Kindheit und Jugend geistig und körperlich ‚angeblich normal’ entwickelt.“



Über einen Monat blieb Franz Molch hier in der Nervenklinik.


„In Hilbersdorf haben sie mich punktiert, ich spüre jetzt noch Schmerzen“, antwortet er später einem Arzt.


Schließlich erstellen der Klinikleiter Medizinalrat Dr. Grage und sein Assistenz-Arzt Dr. Weißgerber ein Schlussgutachten: „In der Klinik verhielt M. sich ruhig, geordnet und unauffällig. Das gegenwärtige körperliche Befinden ist gut, neurologische Störungen sind nicht vorhanden.“ Dennoch heißt es weiter: „M. ist offenbar intellektuell unterwertig und willensschwach. Er war in seinem ganzen Leben unstet und haltlos und vermochte es nicht, sich in die Ordnung der menschlichen Gesellschaft einzufügen.“

Die Begründung stützte sich ausschließlich auf die Ausführungen des Wohlfahrtsamtes, die wortwörtlich abgeschrieben waren.

Fazit: „M. ist ein Psychopath, dessen Unterbringung in eine Landesheilanstalt erforderlich ist.“


Am 4. Januar 1940 wurde Franz Molch in die Landesheilanstalt Zschadraß überführt, eine sogenannte „Zwischenanstalt“, wo die Patienten, unterernährt, mit Medikamenten ruhig gestellt und in mehrfach überbelegten Sälen bis zu ihrer Verlegung in die „Tötungsanstalten“ verwahrt wurden. Bei Franz Molch wird die Verwahrung anderthalb Jahre dauern.


12. August 1941. In Post-Omnibussen der „Gemeinnützigen Krankentransport AG“ werden die Patienten überführt, 47 Frauen und 58 Männer, darunter der Patient mit der „Haupt-Nr. M64“, mein Urgroßvater. Die Fenster der Busse sind mit grauer Farbe gestrichen, ein Rein- oder Rausschauen ist unmöglich.


Nach mehrstündiger Fahrt erreichen die Patienten das eingezäunte Anstaltsgelände der „Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein“. Innerhalb der Einzäunung patrouilliert ein SS-Polizeikommando. Die Fenster des Gebäudes, in das sie geführt werden, sind vergittert. Eine große Esse überragt den Bau. Krankenschwestern beruhigen die Neuankömmlinge mit Morphium-Scopolamin-Spritzen. In zwei Räumen werden sie nach Männern und Frauen getrennt. Sie müssen sich bis auf Hemd und Schuhe ausziehen und ihre Wertsachen zur „Aufbewahrung“ aushändigen. Franz Molch wird die Tabakspfeife abgenommen, man zieht ihm die Ringe von den Fingern und führt ihn den „Ärzten“ zur „Begutachtung“ vor. Als Reaktionsprobe schreit einer von ihnen „Heil Hitler!“, worauf Franz Molch mit „Grüß Gott“ antwortet. Er wird gewogen: 52 kg. Die mehrköpfige Kommission, bestehend aus dem Leiter der Anstalt aus den Ärzten „Dr. Klein“, aus „Dr. Storm und „Dr. Baader“, einigt sich auf „Herzschlag“ als Todesursache. Die Patienten werden in zwei Ansichten fotografiert und anschließend in kleinen Gruppen in den Keller geführt. HalbSie müssen sich entkleiden.nackt und hilflos stehen sie herum, werden dann vom Pflegepersonal in einen sechs mal dreieinhalb Meter großen KellerRraum geschoben, wo sie duschen sollen. Im Ringsherum aum stehen ringsum Holzbänke, von der Decke hängen schiefe Dusch-Köpfe. An der Wand laufen Metallrohre entlang, mit Löchern drin. Die Stahltür wird vergeschlossen.


Von der Hofseite sind Ballspiel und Anfeuerungsrufe zu hören, einmal schlägt derein Ball an der Wand auf.


Nach zwanzig Minuten wird die Tür wieder geöffnet. „Brenner“ schleifen die inander gekrallten Leichen an den Armen in den größeren Raum nebenan, wo den zuvor Gekennzeichneten die Goldzähne gezogen werden. Inzwischen ist es draußen stockfinster. Nur die Körper der Toten liegen bleich am Boden, bevor sie jeweils zu viert auf Blechschütten in die Verbrennungsöfen geschoben werden.



73 Jahre sind vergangen seit dem Tod von Franz Molch. Seine Asche wurde wahllos einen Hügel in Pirna-Sonnenstein hinunter geschüttet, seine Sterbeurkunde wurde gefälscht, genauso sein Todesdatum, er sollte vernichtet werden, körperlich und seelisch, er sollte nicht mehr vorkommen. Und auch die Täter sollten es nicht. Ihre wahren Namen wurden verschleiert: Dr. Klein hieß in Wirklichkeit Dr. Schumann, Dr. Storm hieß Dr. Borm und Dr. Baader, der das Todesurteil meines Urgroßvaters unterschrieb, hieß Dr. Endruweit. Letzterer praktizierte nach dem Krieg weitgehend unbehelligt als Arzt in Wiesbaden weiter.

Dieser Bericht ist der Versuch durch das Aussprechen dieser Tatsachen meinen Urgroßvater zu rehabilitieren, ihn zurückzuholen hierher, in unsere Gemeinschaft.

Aber auch sein Gesicht sollte Franz Molch zurückbekommen:

  1. -Da sämtliche Fotografien vernichtet oder im Krieg zerstört wurden, habe ich sein Porträt rekonstruieren lassen, das Ergebnis ist die Zeichnung, die Sie hier sehen...

- Diese Zeichnung hat ihren Platz in einer Wanderausstellung gefunden, die bereits im Bundestag zu sehen war und aktuell in der Topographie des Terrors in Berlin. Zusammen mit der Geschichte von Franz Molch wird sie die nächsten zehn Jahre an den unterschiedlichsten Plätzen in Europa ausgestellt sein.

- Seit vergangener Woche erinnert vor der Berliner Philharmonie das Denkmal in der Tiergartenstraße 4, dem Ort der Mordplanung, an die NS-Euthanasie-Opfer

- Der Name von Franz Molch wird dort in einer Dokumentation stehen, außerdem steht er auf einer Namenstafel in der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein und jetzt auf diesem Stein hier.

Die Verlegung des Stolpersteins ist für mich und meine Familie eine Art Schlussstein. Franz Molch kann hier endlich seinen Frieden finden und wir einen persönlichen Ort des Gedenkens. Die Vergangenheit abzuschließen heißt auch der Gegenwart neue Chancen zu geben. Und ich hoffe natürlich, dass möglichst viele Menschen über diesen Stein und seine Geschichte stolpern werden.

Mittwoch, 10. September 2014

 
 

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